VII

[68] Die ersten Tage war es noch leidlich gegangen; in der dritten Nacht aber vermehrte sich der Husten, das Stöhnen wurde angstvoll, der Ausdruck des Gesichts verfallen. Dabei sprach der Kranke im Schlaf, wollte aus dem Bett springen. Nicht einmal, zehnmal vielleicht; erst gegen Morgen wurde es besser. Auch der nächste Tag war schlecht. Am Abend des fünften sagte der Arzt zum Sohne: »Mein lieber Herr Weldein, es steht ernst. Sie müssen sich gefaßt machen; es ist meine Pflicht, Ihnen das zu sagen.« – »Gefaßt ...«, wiederholte Franz tief bestürzt ... »gefaßt.« – »Nur Ruhe, lieber Freund ... Sie sind ja ein Mann.« Damit ging er .... Der junge Weldein stand da, festgebannt, ihm nachstarrend ... minutenlang. Das Licht zu Häupten des Kranken flackerte, in der Mitte des Zimmers auf dem Tisch stand eine schlecht brennende Öllampe.

Franz ging ein paar Mal im Zimmer hin und her, als hätte er was zu suchen, dann stellte er sich ans Fußende des Bettes, die Arme auf die Lehne desselben stützend; er war todesmatt, manchmal dem Einschlummern nahe, ... da ward sein Arm müde, und das Bettgestell knackte ... Er schrak zusammen und entfernte sich wieder. Auf eine Weile ging er in den Gang, wo durch das offene Fenster frische Luft hereinströmte. Der volle Mondschein glänzte auf den Steinflies. Etwas Schmeichelndes, Tröstendes lag in dem weichen süßen Glänze. Da kam dem jungen Manne der Einfall, im Zimmer des Kranken dieses Licht sich verbreiten zu lassen, und so begab er sich wieder in die Stube und ließ die niedergelassenen Fenstervorhänge hinauf ... Und es[68] flutete herein, über das Fensterbrett, über den Fußboden, über das Bett, und die weißen Linnen schimmerten blau. Daraus hervor glänzte das abgezehrte Gesicht des Alten ganz blaß – so blaß ... Und die Lippen ganz weiß ... Und auf dem Kasten die leeren Medizinphiolen schillerten ... Der junge Weldein blieb beim Fenster stehen, müd, traurig, ohne Macht. Und jetzt, gerade jetzt, das erste Mal seit der Krankheit seines Vaters, dachte er an etwas anderes als an den Kranken selbst. – Das Bild erschien wieder vor ihm, und er sah sich selbst vor der Staffelei sitzend ... malen. Und Strich für Strich entwarf er es im Geist ... Und er vergaß auf einige Augenblicke alles andere ringsum ... Plötzlich hörte er die Stimme seines Vaters. Er war aufgewacht! – Er sprach! War's möglich? Und noch einmal: »Franz! – Mein Sohn!« – »Du rufst, Vater? Vater!« Und schon stand er beim Bett, die Hand des Kranken ergreifend, der ihn mit großen Augen ansah, aber nichts mehr redete. »Du willst etwas, Vater?«

Der alte Weldein neigte den Kopf. »Wie? Was meinst du?« fragte Franz. Und er setzte sich auf die Bettstatt, mit fragendem Blicke den Kranken betrachtend. »Ein Wunder, mein Sohn, ein Wunder« – sagte dieser.

»Wie? Du fühlst dich wieder wohl – gesund?«

»Nein ... o nein – ich werde sterben ... aber ... oh ... wenn ich's nur sagen kann.« Und er schloß die Augen, holte tief Atem; mit aller Macht schien er das entweichende Leben festhalten zu wollen.

»Mein Sohn ... komm näher heran ... näher zu meinem Mund ... ein Wunder ... zwanzig Jahre hatte ich's vergessen, in dieser Stunde kommt mir die Erinnerung. Höre ...«

»Ich höre ...«

»Franz, du bist reich ... Ein Schatz für dich liegt vergraben.«

Mitleidig und erschrocken blickte der Sohn auf den Kranken ... nun war es klar: der Alte sprach im Fieber. Aber der merkte den Ausdruck im Antlitz seines Sohnes und sagte: »Ich spreche die Wahrheit ... ein Schatz ... bei der Brücke ... Löwenbrücke ... Ich habe Geld gewonnen ... hab' es vergraben; im Klub hab' ich's gewonnen und dann versteckt.«

»Im Klub? Du, Geld?«

»Ja, Graf Spaun ... Du wirst ihn fragen ... er wird es dir erzählen, wie er mich mitnahm eines Abends und ich soviel gewann ... Und getrunken hab' ich – viel – sehr viel ... Und das Geld dann versteckt. Ich habe vergessen, wo ... es war ein[69] Elend ... Du weißt, was für ein Elend es war. Dieses ganze Leben lang ... Und jetzt – jetzt ...«

Er hatte sich im Bett aufgerichtet; seine Stimme war kräftiger geworden; kräftig selbst der Druck seiner Hand, mit dem er die seines Sohnes umklammert hatte, der atemlos lauschte.

»Jetzt – plötzlich – wie ich so dalag, ist es wieder in mir aufgewacht. Diese ganze Nacht! Die Brücke, ja! Die Brücke ... Es war dort, ich wußte es ja! Unter der Brücke ... unter den Steinen ... ein Hammer lag daneben ... ich riß das Erdreich auf ... ich vergrub das Geld, und mit dem Hammer schlug ich drauf ... darum rauschte es und hallte wider.«

»Vater! Wo ist das? Ich verstehe dich nicht! Ein Schatz ... unter der Brücke, wo?«

»Die Löwenbrücke ... der Weg diesseits unter der Brücke, knapp am Flusse ... zu dieser Jahreszeit zwei Schuh breit vom Wasser weg. Da geht ein schmaler Weg zur Landungsstelle ... gepflastert. Damals wurde eben gearbeitet, es war kaum vollendet. Mit einem Hammer schlug ich das Pflaster auf ... Dort liegt das Geld!«

»Aber ...!«

»Du glaubst es nicht. Es ist so ...«

»Unter der Löwenbrücke?«

»Unter dem gepflasterten Weg ... gewiß wird es dort sein! ... Ich sehe es. Ich sehe auch, wie ich es unter die Steine legte. Man kann es von dort nicht weggetragen haben, nein ... du wirst es finden, du wirst reich und glücklich sein.«

»Vater! ... Du träumst noch.«

»Nein! Ich träume nicht! Ich weiß es.«

»Nun ja, aber der Weg ist lang unter der Brücke.«

»O nein, nicht lang ... beim zweiten Pfeiler auf den ersten Schlag mit dem Hammer mußt du's finden.«

Franz griff sich an den Kopf; er verstand das Ganze noch nicht recht.

»Mein Sohn ... rasch ... geh hin!«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt, weil es Nacht ist. Meinen Arbeitskittel nimm ... und den Hammer, der draußen liegt ... neben dem Ofen ... ja ... geh gleich ... ich will es noch sehen ... in ein Tuch ist es eingebunden, Papier und Gold. Geh ... geh!«

Der Sohn stand auf, seiner Sinne nicht mächtig, er eilte hinaus. Im Vorzimmer nahm er den weißen Arbeitskittel des Vaters vom[70] Haken und den Hammer, der dalag, und verbarg ihn unter dem Rock. Er dachte in diesem Momente an nichts anderes als an den Schatz ... kein Gedanke mehr an den Sterbenden ... vor ihm tanzte und drehte sich das Geld, das Geld ... lichtes, tanzendes Gold! Und er eilte davon. – Die Straßen waren leer, er lief durch sie ... da kam er in jene lange Straße, durch die vor vielen Jahren der alte Weldein das gewonnene Geld getragen ... und bald zur Brücke, auf der er einen Tag später gestanden, verzweifelt und jammernd, während unter seinen Füßen all der Reichtum lag, der ihn selig gemacht hätte. Da also ... und schon stand er am zweiten Pfeiler ... Über ihm wölbten sich die Bogen der Brücke, neben ihm rauschte der Strom hin, die Strahlen des Mondes auf seinen Wellen weitertragend.

Und Franz Weldein begann sein Werk. Nach wenigen Minuten waren zwei Lagen von Steinen ausgesprengt. Nichts ... nichts. Jetzt rollte ein Wagen oben über die Brücke ... dumpf ... schwer ... Franz begann von neuem ... Und hier ... ja ... etwas, das aussah wie ein Tuchende ... und jetzt ... noch ein Stein ... Es rauschte und hallte wider ... und das? das! Es war dunkel unter der Brücke, mit beiden Händen griff Franz nach etwas Weißem, das dalag. Ein Tuch ... zusammengebunden. Auf damit ... Er riß die Knoten auseinander ... Gold ... Banknoten ... Ja! er war's! der Schatz! Der Reichtum, das Glück! Und Franz steckte das Ganze unter den Kittel ... mit zitternden Händen ... War's denn möglich? Und wie er unter der Brücke wieder hervortrat und das Licht der freundlichen Nacht ihn umglänzte, da hätte er auf die Knie fallen mögen, weinen ... vor Freude ... vor Glück. Er begann zu laufen ... plötzlich hielt er inne ... Er blickte um sich. Niemand in der Nähe? Ja doch, ein paar harmlose Spaziergänger ... Aber schnell gehen mitten in der Nacht könnte Verdacht erregen. Verdacht? Hat er denn ein Unrecht getan? Nun ... immerhin ... Und so ging er denn in bedächtigem Schritt weiter, die linke Hand gemächlich in der Hosentasche, mit der Rechten seinen Reichtum unter dem Arbeitsrock schützend.

Ein Gefühl von unendlichem Frieden überkam ihn allmählich ... Nun war alles gut. Und sein Bild so gut wie vollendet ... Ruhe, Reichtum ... alle Wonnen der Erde! Und der alte Mann, der sterben mußte? – Der junge Weldein begann rasch zu gehen ... wer weiß, ob der Anblick des wiedergefundenen Geldes den Alten nicht wieder gesund machen würde. Was hatte ihn denn[71] krank gemacht? Die Armut, die Hoffnungslosigkeit, das Elend. Also hin, rasch hin, um ihm das Glück und die Gewißheit guter Tage zu bringen. Als er in das kleine Vorzimmer trat, war alles ruhig. Nur keine Übereilung. Er wechselte den Rock, hing den Arbeitskittel wieder an den alten Platz. Das Tuch mit dem Geld schob er unters Hemd. Nun ins Zimmer. »Vater«, rief er, »ich bring' es! ich hab' es!« Und er stürzte zum Bette hin, da lag der Kranke bewußtlos, mit keuchendem Atem. Kalter Schweiß auf der Stirne. Gewiß, es ging zu Ende.

»Vater!« rief Franz .... Keine Antwort!

Vergeblich bemühte sich Franz, den Alten zu erwecken ... er rief ihn an, er schrie, er fuhr ihm durch das wirre Haar. Er hauchte ihn an ... Er rieb ihm die kalten Arme und Beine mit seinen warmen Händen ... Einmal glaubte er zu bemerken, daß sich die Augenlider öffnen wollten. Nichts ... nichts ... der Atem wurde schwächer ... Keine Bewegung; keine Antwort, die Zeit verrann, ratlos saß Franz da ... »Vater! ... Das Geld! ich hab' es hier.«

Gegen Morgen kam der Arzt. Er schritt rasch auf das Bett zu, kaum vernehmlich grüßend ... Er griff nach dem Puls ... »Nicht mehr fühlbar ...«, sagte er.

»Wie ... Sie meinen also?«

»Ich bitte« – flüsterte der Arzt, den Finger auf den Mund legend. Er wollte Ruhe, wollte den Atem beobachten. Er stand aufrecht da ... dann beugte er sich zur Brust des Alten und legte sein Ohr daran ... Nach zehn, zwanzig Sekunden erhob er sich langsam und streckte dem Sohn, der am Fußende des Bettes stand, den Blick angstvoll auf den Arzt gerichtet, die rechte Hand entgegen. Wortlos ... »Er ist tot?« schrie Franz auf ... die Hand ergreifend.

»Er hat ausgelitten«, sagte der Arzt bewegt. Franz sank auf einen Stuhl, dabei hörte er selbst, wie die Goldstücke in seiner Brust aneinanderklangen. Er zuckte zusammen, griff mit der einen Hand danach. Dann schaute er den Doktor an, ob er es gemerkt hätte ... nein! der war zum Fenster getreten. Er öffnete es. »Es ist so schwül hier«, sagte er leise. Die Morgensonne lag über den Nachbarsdächern.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 68-72.
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